Samuel Beckett: Imagination Dead Imagine
[Ausgeträumt träumen]
Mappe von Jamie Murphy, David O’Kane
und Stanley E. Gontarski
7. November—23. Dezember 2015

Samuel Beckett
Ausgeträumt träumen

Nirgends eine Spur von Leben, sagt ihr, hm, daran soll’s nicht liegen, noch nicht ausgeträumt, doch, gut, ausgeträumt träumen. Inseln, Wasser, Blau, Grünes, aufpassen, pfft, futsch, eine Ewigkeit, schweigen. Bis auf den Rundbau, ganz weiß im Weißen. Kein Eingang, hinein, messen. Durchmesser 80 Zentimeter, gleicher Abstand vom Boden bis zum Scheitel der Wölbung. Zwei sich rechtwinklig schneidende Durchmesser AB CD teilen den weißen Boden in die Halbkreise ACB BDA. Auf dem Boden liegend zwei weiße Körper, jeder in seinem Halbkreis. Weiß auch die Wölbung und die 40 Zentimeter hohe, runde Wand, auf der sie ruht. Hinaus, ein Rundbau ohne Zierat, ganz weiß im Weißen, wieder hinein, klopfen, massiv überall, es tönt wie Bein in den Träumen tönt. Vom Licht, das alles so weiß macht, keine Quelle zu sehen, alles strahlt in gleichmäßig weißem Glanz, Boden, Wand, Wölbung, Körper, keinerlei Schatten. Große Wärme, Flächen fühlen sich heiß an, ohne glühend zu sein, Körper in Schweiß. Wieder hinaus, zurück, er verschwindet, drüber weg, er verschwindet, ganz weiß im Weißen, hinunter, wieder hinein. Leere, Stille, Wärme, Weiße, warten, das Licht wird schwächer, alles wird zugleich dunkel, Boden, wand, Wölbung, Körper, etwa 20 Sekunden, alle Graus, das Licht erlischt, alles verschwindet. Gleichzeitig sinkt die Temperatur, um ihr Minimum, beinahe null Grad, in dem Moment zu erreichen, da es schwarz wird, was sonderbar erscheinen mag. Warten, mehr oder weniger lang, Licht und Wärme kommen wieder, Boden, Wand, Wölbung und Körper werden zugleich weiß und warm, etwa 20 Sekunden, alle Graus, erreichen ihre Stufe von vorher, von wo das Fallen begonnen hatte. Mehr oder weniger lang, denn, wie die Erfahrung zeigt, können sich zwischen Ende des Fallens und Anfang des Steigens sehr verschiedene Zeiträume einschieben, vom Bruchteil einer Sekunde bis zu einer Dauer, die zu anderen Zeiten und an anderen Orten wie eine Ewigkeit hätte erscheinen können. Dasselbe gilt für die andere Pause zwischen Ende des Steigens und Anfang des Fallens. Die Beständigkeit der Extreme ist, solange sie währen, vollkommen, was seitens der Temperatur sonderbar erscheinen mag, in den ersten Zeiten. Es kommt, wie die Erfahrung zeigt, auch vor, daß Fallen und Steigen stocken, und zwar auf jedweder Stufe, und eine mehr oder weniger lange Pause machen, bevor sie fortfahren oder sich verwandeln, jenes in ein Steigen und dieses in ein Fallen, wobei sie ihrerseits sei es anlangen oder vorher stocken können, um anschließend fortzufahren oder von neuem umzukehren, am Ende einer mehr oder weniger langen Zeit, und so weiter, bevor sie am einen oder anderen Extrem anlangen. Bei solchen Höhen und Tiefen, Wiederaufsteigen und Rückfällen, die in zahllosen Rhythmen aufeinander folgen, kommt es nicht selten zum Übergang vom Weißen zum Schwarzen und von der Wärme zu Kälte und umgekehrt. Nur die Extreme sind beständig, was die Schwingungen, die sich während der Pausen auf den Zwischenstufen ergeben, noch deutlicher machen, welcher Dauer und Höhe sie auch sein mögen. Dann erschauern Boden, Wand, Wölbung und Körper, grauweiß oder rußschwarz oder zwischen den beiden je nachdem. Aber es kommt, wie die Erfahrung zeigt, eigentlich selten zu solchem Übergang. Und meist setzt sich, wenn das Licht schwächer zu werden und mit ihm die Wärme abzunehmen beginnt, die Bewegung reibungslos fort bis zum Tiefschwarz und zum Nullpunkt ungefähr, die gleichzeitig nach etwa 20 Sekunden erreicht werden. Das gleiche gilt für die entgegengesetzte Bewegung der Wärme und zum Weißen. Dann in der Reihenfolge der Häufigkeit das Fallen oder das Steigen mit mehr oder weniger langen Stockungen in den fiebernden Graus, ohne daß in irgendeinem Moment die Bewegung umgekehrt wird. Nichtsdestoweniger ist, wenn das Gleichgewicht, das von oben wie das von unten, einmal gestört ist, der Übergang zum folgenden unendlich wandelbar. Aber welche Zufälle sie auch immer bestimmen mögen, die früher oder später erfolgende Rückkehr zur einstweiligen Ruhe scheint gewiß, momentan, im Schwarzen oder im hohen Weiß, mit entsprechenden Temperaturen, in dieser Welt, die noch gegen die endlosen Krämpfe gefeit ist. Durch ein Wunder nach welcher Abwesenheit in vollkommenen Einöden wiedergefunden, ist sie schon nicht mehr ganz dieselbe, in dieser Hinsicht, aber es gibt keine andere. Äußerlich bleibt alles unverändert und das Sichten des kleinen Baus immer noch gleich zufällig, da sein Weiß in dem es umgebenden aufgeht. Aber hinein, und jetzt kürzere Ruhepausen und nie zweimal der gleiche Aufruhr. Licht und Wärme bleiben verbunden, wie von ein und derselben Quelle gespeist, von der immer noch keinerlei Spur. Immer auf den Boden, zweifach gekrümmt, mit dem Kopf an der Wand bei B, dem Hintern an der Wand bei A, den Knien an der Wand zwischen B und C, den Füßen an der Wand zwischen C und A, das heißt in dem Halbkreis ABC, in dem weißen Boden aufgehende, wäre nicht das lange Haar im zweifelhaftem Weiß, ein weißer Körper einer Frau, wie sich endlich zeigt. Ähnlich in dem anderen Halbkreis, an der Wand der Kopf bei A, der Hintern bei B, die Knie zwischen A und D, die Füße zwischen D und B, auch so weiß wie der Boden, der Partner. Auf der rechten Seite also beide und Kopf an Steiß, Rücken an Rücken. Einen Spiegel an ihre Lippen halten, er beschlägt. Mit der Linken hält sich jeder das linke Bein ein wenig unterm Knie, mit der Rechten den linken Arm ein wenig überm Ellbogen. In diesem aufgeregten Licht, wo die große, weiße Ruhe so selten und kurz geworden, ist die Inspektion schwierig. Trotz Schweiß und Spiegel würden sie leicht als leblos gelten ohne die linken Augen, die in unberechenbaren Abständen plötzlich aufgesperrt und weit über Menschenmögliches hinaus offengehalten werden. Ihr grelles Hellblau ist von durchdringender Wirkung, in den ersten Zeiten. Nie beide Blicke zusammen, nur ein einziges Mal, etwa zehn Sekunden, als der Anfang des einen auf des Ende des anderen vorgriff. Die weder fetten noch mageren, weder großen noch kleinen Körper scheinen heil und in recht gutem Zustand zu sein, von den dem Blick dargebotenen Teilen aus zu urteilen. Auch den Gesichtern erscheint, vorausgesetzt, daß beide Hälften sich gleichen, nichts Wesentliches zu fehlen. Zwischen ihrer absoluten Regungslosigkeit und dem entfesselten Licht besteht ein auffallender Gegensatz, in den ersten Zeiten, für einen, der sich noch erinnert, für das Gegenteil empfindlich gewesen zu sein. Es ist jedoch klar, aufgrund von tausend kleinen Zeichen, die zu erträumen zu lange dauern würde, daß sie nicht schlafen. Nur kaum ah murmeln in dieser Stille, und im selben Augenblick im Raubauge das gerade wahrnehmbare, sofort unterdrückte Zucken. Sie da lassen, in Schweiß und eiskalt, es gibt anderswo Besseres. Aber nein, das Leben endet, und nein, es gibt anderswo nichts, und keine Rede mehr davon, jenen weißen, im Weißen verlorenen Punkt wiederzufinden, um zu sehen, ob sie ruhig geblieben sind, mitten in diesem Gewitter oder einem schlimmeren, oder in dem für immer tiefen Schwarz, oder dem unverwandelbaren hohen Weiß, und wenn nicht, was sie tun.

—übersetzt von Erika und Elmar Tophoven.
In: Werke IV. Erzählungen. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1976, S. 201 ff.
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976




Anmerkungen zu den Drucken
Diese neue Ausgabe von losen Blättern feiert den 50. Jahrestag der ursprünglichen Veröffentlichung im Jahr 1965. Das Projekt ist eine Zusammenarbeit zwischen dem typografischen Designer Jamie Murphy und dem bildenden Künstler David O'Kane. Eingeleitet wird das Werk durch einen Essay des renommierten Beckett-Forschers Stanley E. Gontarski.

Der Text wurde von Jamie Murphy von Hand gesetzt und im Buchdruck in 18 Punkt Caslon Old Face gedruckt, unterstützt von einer neu gezeichneten zehnzeiligen Groteskschrift von Bobby Tannam, die von Tom Mayo aus Ahornholz geschnitten wurde. David O'Kane hat zwei vom Text inspirierte Lithografien zur Verfügung gestellt, die von Thomas Franke in der Lithografie-Werkstatt Stein Werk in Leipzig gedruckt wurden. Die Bögen sind auf 250 g/m² französischem Venin Cuve BFK Rives gedruckt.

Die Auflage ist auf 50 Exemplare limitiert, von denen 40 auf das Standardformat und zehn auf das Luxusformat entfallen. Die Einbände wurden von Tom Duffy in Dublin hergestellt. Das Standardformat ist in einer leinenbezogenen Mappe untergebracht, die in einem Schuber geschützt ist. Die Luxusausgabe wird in einer Muschelschachtel präsentiert, die von einem typografischen Triptychon begleitet wird, das auf dem Text basiert. Die Standardexemplare sind von 11 bis 50 nummeriert, die de-luxe-Exemplare von 1 bis 10. Jedes Exemplar wurde von den Mitarbeitern signiert.

Anmerkungen zu den Lithos
Die beiden in dieser Ausgabe enthaltenen Lithos wurden in der Schablithografie hergestellt. Diese Lithografietechnik ist sehr arbeitsintensiv und beinhaltet das Wegkratzen einer Oberfläche des geschwärzten Lithografiesteins, um das Bild zu formen; buchstäblich das Herauskratzen von hellen Formen aus der Dunkelheit, was den konstruierten Charakter des Textes unterstreicht, den Beckett so sehr betont.

Der erste Druck ist eine Art Schema. Es ist nicht vollständig ausgearbeitet und erinnert an griechische und römische Bilder, die eine metaphorische Ausgrabung andeuten. Die Buchstaben und das Bild machen es zu einer Art Logotyp [wörtlich: Wortabdruck im Griechischen] oder Emblem und bilden eine Brücke zwischen dem Text und dem Bild.

Der zweite Druck ist größer. Das ungewöhnliche Format des Bildes spiegelt die Formatierung des Prosatextes wider, wie er in dieser Ausgabe erscheint. Es gibt auffällige Diskrepanzen zwischen dem, was Beckett beschreibt, und dem, was auf dem Bild zu sehen ist. Das Bild ist in der Tat ein gescheiterter Versuch, das in der Erzählung Erfundene darzustellen. Was den Künstler an der Inszenierung interessierte, ist die Tatsache, dass die von Beckett beschriebenen Positionen und Räume anatomisch unmöglich sind, ohne den menschlichen Körper grob zu entstellen. Beckett wird dies gewusst haben, denn er hat den Raum auch in seinen Notizen skizziert. Er betont also bewusst die Beengtheit des Szenarios. Tatsache ist, dass die Extrempositionen vor dem geistigen Auge des Künstlers nicht genau mit dem übereinstimmen, was in der Erzählung beschrieben wird. Die räumlichen Diskrepanzen werden erst dann vollständig sichtbar, wenn man den Raum Punkt für Punkt abbildet.

Die endgültigen Lithographien sind eine Kombination aus dem mentalen Bild, das beim Lesen des Textes entsteht, und der Interpretation der physischen Nachstellung im Atelier des Künstlers. 

Über die Autoren
Stanley E. Gontarski | Stanley ist Robert O. Lawton Professor für Englisch an der Florida State University. Stanley ist ein renommierter Beckett-Forscher und spezialisiert auf Irlandstudien des zwanzigsten Jahrhunderts, auf die britische, US-amerikanische und europäische Moderne sowie auf Performance-Theorie. Er erhielt vier Forschungsstipendien des National Endowment for the Humanities, wurde zweimal mit einer Fulbright-Professur ausgezeichnet und war Gastredakteur bei American Book Review, The Review of Contemporary Fiction, Modern Fiction Studies und zuletzt bei Drammaturgia.

David O'Kane studierte von 2007 bis 2012 bei Professor Neo Rauch an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Er schloss sein Studium 2009 mit dem Diplom und 2012 mit dem Meisterschülerdiplom mit Auszeichnung ab. O'Kanes Studium in Deutschland wurde durch ein erweitertes DAAD-Stipendium gefördert. Er hat außerdem einen 1st Class Joint-Honours Degree in Fine Art vom NCAD in Dublin [2006]. Im Jahr 2014 wurde er mit dem Golden Fleece Award ausgezeichnet. In diesem Jahr wird auch ein umfangreiches Buch veröffentlicht, das einen Überblick über O'Kanes Schaffen der letzten Jahre gibt. Das Buch ist eine Zusammenarbeit zwischen dem Künstler und The Salvage Press, mit Unterstützung durch den Golden Fleece Award. O'Kane ist derzeit Artist in Residence in den Fire Station Artists' Studios in Dublin.
David O'Kane wird von der Josef Filipp Galerie vertreten.

Jamie Murphy ist ein preisgekrönter typografischer Designer und Buchdrucker mit Sitz in Dublin. Seine Interessen liegen dort, wo zeitgenössisches Grafikdesign auf traditionelle Produktionstechniken trifft. Er widmet sich dem Erhalt, der Förderung und dem Streben nach Exzellenz in Design, Typografie und Buchdruck und produziert seit 2012 seine Bücher und Breitseiten unter dem Imprint The Salvage Press. Nach seinem MA an der NCAD, wo er bei Meisterdrucker Seán Sills studierte, ist Jamie seit 2013 Designer in Residence bei Distillers Press, wo er mit Studenten der Visuellen Kommunikation arbeitet. Seine im Buchdruck hergestellten Arbeiten befinden sich in vielen der weltweit bedeutendsten privaten, institutionellen und akademischen Sammlungen.


 

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